Europa ist keine Ersatznation Solche Überlegungen - wie sie auch auf dem jüngsten EU-Gipfel in Göteborg zur Sprache kamen - gehen am Wählerwillen vorbei. Sie stehen in krassem Gegensatz zu allen bisherigen politischen Vorgaben zur Osterweiterung sowie sämtlichen Versprechungen an die Bürger. Und sie führen auch sachlich in die Irre. Der Vertrag von Nizza ist unverzichtbare Voraussetzung für die Osterweiterung der Europäischen Union, denn ohne die in Nizza beschlossenen institutionellen Reformen wäre eine auf bis zu 27 Staaten anwachsende EU unregierbar. Bei der Erfüllung seines historischen Auftrags muß Europa verantwortungsvoll handeln und darauf achten, daß die Skepsis der Bürger gegenüber den Entscheidungsfindungen der EU nicht weiter wächst. Es muß beim Versprochenen bleiben! Alles andere wäre eine Mißachtung des Wählers. Ein Ignorieren - nicht zuletzt auch des irischen Wählerwillens - durch die politisch Verantwortlichen wäre ein falsches Signal der Arroganz und eine Bestätigung all derer, die auf Demokratiedefizite in der Europäischen Union hinweisen. Ein zweites Referendum in Irland wäre erst Ende 2002 möglich, bei ebenfalls ungewissem Ausgang. Unabhängig davon sollten die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten zielstrebig fortgeführt werden. Verzögerungen der Beitritte sind möglich, doch gilt auch hier der Grundsatz jeder soliden Politik, daß Qualität wichtiger ist als Geschwindigkeit. Schließlich stellt die EU mit der Osterweiterung vor ihrer größten Herausforderung. Zur Lösung der Aufgabe muß die Funktionsweise des europäischen Projekts grundlegend überarbeitet werden, wenn sein langfristiger Erfolg gesichert werden soll. Wir dürfen dabei nicht den Fehler von Maastricht wiederholen, als die Politik den Bürgerinnen und Bürgern eine großes Projekt - die Währungsunion - einfach vorgesetzt hat. Bei der Osterweiterung darf es nicht noch einmal zu solch einer Kluft zwischen politischer Elite und breiten Schichten der Bevölkerung kommen. Vorhaben, die sich nur auf die Vision politischer Eliten stützen, tragen den Keim des Scheiterns in sich. Deshalb ist bei der Osterweiterung darauf zu achten, daß die Beitrittskriterien strikt eingehalten werden. Die Politik muß dafür Sorge tragen, daß die EU handlungs- und entscheidungsfähig bleibt und wieder durchschaubarer wird. Denn ohne die breite Zustimmung der Menschen wird die Wiedervereinigung unseres Kontinents nicht gelingen. Viele Menschen erachten die in Europa erreichte Stabilität mittlerweile als selbstverständlich. Der Sinn und Zweck der europäischen Integration muß daher wieder verstärkt thematisiert und erklärt werden. Ohne Stabilität in ganz Europa kann es Prosperität nicht geben. Damit aber die Vorbehalte gegen die weitere Integration Europas bei den Bürgerinnen und Bürgern abgebaut werden, müssen die Verantwortlichkeiten im gemeinsamen Haus Europa klar zuschreibbar und nachvollziehbar gestaltet sein. Die Zuständigkeiten zwischen Region, Nationalstaat und Europa bedürfen klarer Abgrenzung. Wir müssen gleichermaßen beides tun: nationale Souveränitäten effektiv bündeln sowie Souveränitäten für die drei Ebenen gliedern. In einigen Bereichen brauchen wir »mehr Europa«, da die Probleme im nationalen Maßstab nicht mehr zu lösen sind - wie bei der Verbrechensbekämpfung oder im Umweltschutz. Auf der anderen Seite aber gibt es zahlreiche Aufgaben, die in die natürlichen Zuständigkeiten der nationalen und regionalen Ebene fallen: Kultur, Bildung Tourismus oder Raumplanung, um nur einige Bereiche zu nenne, mit denen sich Brüssel besser nicht befassen sollte. Europa muß die Heimat der Nationen werden und darf nicht Ersatznation sein. Nur ein Europa der gegliederten Souveränität hat Zukunft. Schwere Fehler im »Tagesgeschäft«, die das Vertrauen und die Zuversicht der Bürgerinnen und Bürger aufs Spiel setzen, sind zu vermeiden. Die Sanktionen der EU-14 gegen Österreich haben viele Menschen mißtraurisch werden lassen, zumal gleichzeitig Rußland - von Europa unbehelligt - in Tschetschenien Völkermord begehen kann und trotzdem hofiert wird. Ein anderes Beispiel, das Skepsis begründet: Mit dem Beitrittskandidatenstatus für die Türkei ist ein gefährliches Signal gegeben worden, da zum einen falsche Hoffnungen geweckt, zum anderen die natürlichen Grenzen der Europäischen Union aufgeweicht wurden. Europa darf nicht Gefahr laufen, seine Wertebasis zu erodieren. Europa verstand sich - am Beginn des Einigungsprozesses der mit den Namen Robert Schuman, Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß verbunden war - vor allem als eine Wertegemeinschaft mit christlich-abendländischen Wurzeln. Von dieser geistigen Basis ausgehend, muß heute für die Bürgerinnen und Bürger Klarheit über die Zuständigkeiten in der Europäische Union geschaffen werden. Es gilt, das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Europa transparent zu definieren, damit wieder für alle der Sinn Europas erkennbar wird. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, für eine ausgeglichenere Lastenverteilung zu sorgen. Solange viele Deutsche das Gefühl haben, ausgenützt zu werden, trägt auch dies zur inneren Distanz bei. In der Tat ist die Bundesrepublik Deutschland der mit Abstand größte Beitragszahler in der Europäischen Union. Dies liegt daran, daß sich die Bruttobeiträge, die jeder Mitgliedstaat an die Union leistet, am jeweiligen Bruttosozialprodukt (BSP) des Landes orientieren. Dies heißt nichts anderes, als daß die Mitgliedstaaten gemäß ihres Anteils am Gesamt-BSP der Union zum EU-Eigenmittelsystem beitragen. Hier fällt Deutschland als größtem und wirtschaftlich stärkstem Land konsequenterweise der größte Anteil zu. Das Problem liegt in der Differenz zwischen den Bruttobeiträgen an die EU und den Rückflüssen nach Deutschland, also dem Nettosaldo, der Jahr für Jahr über 20 Milliarden Mark liegt. Dieser Nettosaldo war im Falle Deutschlands immer schon negativ, das heißt die Zahlungen nach Brüssel haben die Rückflüsse nach Deutschland auch früher überstiegen. Als wohlhabendes Land mit einem relativ kleinen Agrarsektor entfielen auf Deutschland geringere Rückflüsse aus den Strukturfondsmitteln und denjenigen der Gemeinsamen Agrarpolitik. Deutschland hat mit der Wiedervereinigung die schlimme Teilung der Nachkriegszeit auf friedliche Weise überwunden. In der Folge kamen je-doch die Ergebnisse von 40 Jahren Plan- und Mißwirtschaft in der ehemaligen DDR deutlich ans Tageslicht. Der wirtschaftliche Aufbau der Neuen Bundesländer, für den unser Land bis jetzt bereits rund 700 Milliarden Mark aufgebracht hat, ist auch heute noch nicht abgeschlossen und verlangt weitere substantielle finanzielle Anstrengungen. Die deutsche Einheit hat - ungeachtet eines absoluten Anstiegs des Bruttosozialprodukts - aufgrund der ökonomischen Probleme in den Neuen Bundesländern zu einem Absinken des Wohlstandsniveaus in Deutschland geführt. Die entscheidende Größe, an welcher der wirkliche Wohlstand eines Mitgliedsstaates gemessen werden muß, ist dasjenige Bruttosozialprodukt, welches pro Einwohner erwirtschaftet wird. Ergänzend dazu bedarf es als Kriterium der entsprechenden Kaufkraft, die darüber Auskunft gibt, was man für sein Geld bekommt. Die statistische Größe hierfür ist das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt in Kaufkraftstandards (KKS). Daran aber ist klar ersichtlich, daß Deutschland seine Spitzenstellung in Europa eingebüßt hat und nicht mehr das wohlhabendste Land in der EU ist. Es kann deshalb nicht länger dieser übermäßigen Belastung eines drastisch verschlechterten Nettosaldos ausgesetzt werden. Was in EU-Gremien euphemistisch »Haushaltsungleichgewicht« heißt, ist eine - gemessen an unserer Leistungsfähigkeit - viel zu hohe Beitragsleistung die zurückgeführt werden muß. Die Solidarität, mit der wir für unsere europäischen Partner eingetreten sind und eintreten, sollten wir jetzt auch von ihnen erwarten dürfen, wenn es um die Anerkennung der neuen Lage geht. Die neue Realität ist: Deutschland steht nicht mehr an der Spitze, sondern erst an fünfter Stelle der europäischen Wohlstandsskala. Das muß sich auch in einer neuen und gerechteren Lastenverteilung niederschlagen. Eine andere Quelle des Ärgers ist die Praxis der schwedischen EU-Präsidentschaft, bei informellen Ratssitzungen keine Übersetzung mehr ins Deutsche anzubieten. Dies ist ehe Abkehr von der bisherigen Praxis und ein Affront gegen die größte Sprachgruppe in der Europäischen Union. Deutsch wird von rund hundert Millionen Menschen in Europa als Muttersprache gesprochen und in vielen mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern ist Deutsch die erste Fremdsprache. In der Frage der Gleichberechtigung der großen Sprachen muß Deutschland endlich Flagge zeigen. Auf dem Weg weiterer Reformen darf Europa die Identität der Mitgliedstaaten und Regionen nicht preisgeben. Auch in einem Europa des 21. Jahrhunderts identifiziert sich der Bürger stark mit seiner Umgebung, seiner Heimat und der ihm am nächsten stehenden staatlichen Gliederung. Dazu muß die EU weiterhin auf der Staatlichkeit der Mitgliedsländer und ihrer regionalen Strukturen aufbauen. Die Regionen bilden als bürgernahe politische Instanz ein wichtiges Bindeglied zum großen Europa. Kreativität und Vielfalt der Regionen sind dabei ein Charakteristikum, das unseren Kontinent über Jahrhunderte hinweg stark gemacht hat. Europa braucht die Regionen, um interne Spannungen auszugleichen. Ein Gebiet von der Größe der EU kann niemals ein homogener Raum sein. Durch die Osterweiterung wird die Heterogenität im Innern der EU noch wesentlich zunehmen. Die Regionen sind ein unverzichtbarer Puffer, um die Spannungen, die aus den Unterschieden resultieren, abzufedern. Die Regionen leisten ihren Beitrag, um Identität und Geborgenheit in einer sich immer schneller verändernden Welt zu bewahren. Die Unübersichtlichkeit, die Fülle und die scheinbare Beliebigkeit des Globalen erzeugen bei vielen Menschen das Gefühl der Verunsicherung und des Ausgeliefertseins. Dies ist für den Einzelnen besser verkraftbar, wenn ihm aus der eigenverantwortlich gestalteten Heimat - in der Region im nationalen Rahmen - Identität erwächst. Die Regionen leisten einen wichtigen Beitrag für die innere Stabilität in der Gesellschaft. Dort sind Wertvorstellungen lebendig und wird Solidarität praktiziert. Diese Solidarität ist es, die zum Beispiel das bayerische Bündnis für Arbeit - über Partei- und Interessensgrenzen hinweg - zu einem Erfolg hat werden lassen. Verantwortlichkeit und Kontrolle sind am besten in überschaubaren Räumen zu verwirklichen. Dies trägt zu Effizienz und Akzeptanz politischer Ordnung bei. Nicht überall verfügen die Regionen über ausgeprägte Selbstverantwortung. Aber überall - unabhängig davon, ob sie eigene Parlamente haben - liegen sie in scharfem wirtschaftlichem Wettbewerb untereinander. Starke Regionen bilden das Rückgrat für den Wirtschaftsstandort Europa. Unser Kontinent muß weiterhin geprägt sein von Eigenverantwortung, Wettbewerb und Vielfalt - nicht von zentralistischer Bevormundung. Nur das bringt Dynamik und Fortschritt. Wir brauchen eine Politik, die regionale Eigenständigkeiten wahrt, nationale Interessen berücksichtigt und dort, wo es notwendig ist, auf europäischer Ebene wirksam handelt. Die Frage, ob ein »europäischer Bundesstaat« entsteht kann und muß hingegen eindeutig mit nein beantwortet werden. Die Nationalstaaten bleiben bestehen und sie werden - auch in Form ihrer einzelnen Regionen - der Lebens- und Orientierungsrnittelpunkt der Menschen in Europa bleiben. Ein »europäischer Bundesstaat« würde in den Herzen der Menschen keinen Platz finden. Dies entspricht auch den Empfindungen der Bürger in den anderen großen Ländern Europas. Das solide Fundament der Europäischen Union bilden die Staaten und
Regionen. Die Stärke Europas liegt in seiner durch Kultur, Tradition
und regionale Gegebenheiten entstandenen Vielfalt und einem gemeinsamen
historischen Erbe begründet. Sie sind die Grundlage unseres Gemeinwesens,
unseres demokratischen Rechtsstaates und des Prinzips der Subsidiarität.
Diese christlich-abendländische Werteordnung muß auch künftig
die Leitkultur in Europa bleiben.
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